La Sapienza

Einen Sommer lang hatte sich Marcel
mit dieser Dottoressa geliebt, ihm kam es vor wie ein ganzes Leben, er war jung, und bei Sonia, der Frau, die ihm ihren Himmel zeigte, hatte er das Gefühl, als gehöre ihm die ganze Welt.
Doch ihre Augen blieben oft melancholisch. Es war eine unvermeidliche
Geschichte, hoffnungslos und herrlich zugleich, doch als ihm die
Aussichtslosigkeit des Ganzen die Kehle zuschnürte, flog er nach Berlin
zurück, entschlossen, ein neues Leben zu beginnen.

Fortsetzung…

Ein Samstagabend in Berlin
Das Klicken der Haustür und Marias Schritte, die sich die Stufen hinunter über den Kiesweg entfernten, waren die letzten Geräusche. Kurz darauf hörte Marcel, wie das gequälte Getriebe ihres Wagens aufjaulte, doch nach und nach verloren sich die Klänge in Ferne und Unwirklichkeit. Damit war für diese Nacht erstmal alles entschieden.

Bis zu seiner Begegnung mit Maria, die die Götter im Himmel geschickt hatten und die er für sein Leben wollte, glaubte er, dass die Lösung aller Probleme irgendwo in der Vergangenheit liege, wie man so denkt. Als er ihr begegnete, wähnte er, das Heute und das Morgen zu greifen, etwas festzuhalten, das fruchtbar ist. Statt dessen entglitt ihm das Leben ganz. Eigentlich hatte sie ihm dieses Wochenende, nachdenklicher als gewöhnlich, mit einem Seufzer versprochen. Und noch gestern hatte es völlig natürlich gewirkt, wie sie sich beim Abschied an ihn presste, als habe sie sich zeit ihres Lebens danach gesehnt, mit ihm zu leben. Sie selbst schien darauf zu brennen, den Samstagabend und die Nacht mit ihm zu verbringen.

Eine wilde Hoffnung
Hier in seiner WG-Villa in Nicolassee hätten sie so laut und unbekümmert sein können wie Göttin und Gott in Frankreich. Heute war nicht zu befürchten, dass Freunde in sein Zimmer stolperten, so wie früher im Paradies der schrägen Vögel und philosophierenden Fremdgeher am Mehringdamm. Sein Sohn war auf Klassenfahrt, die anderen Mitbewohner waren auf Piste. Auch heute Nachmittag war die Welt noch in Ordnung, Maria hatte sich am Telefon gewünscht, mit ihm ins ,Capitol‘ zu gehen, Spätvorstellung: „Besser geht’s nicht“ mit Jack Nicholson.

Kurz vor acht ging die Klingel, endlich. „Komm herein, wir sind allein.“ Maria, selbstbewusst und trotzdem weiche Stimme, hohe Backenknochen, slawische Züge, leichter Silberblick, schöne Augen. Wiedersehen nach dreißig Stunden.

Als sich die Haustür schloss, herrschte im Flur vollkommene Dunkelheit, die Birne war vor ein paar Tagen durchgeknallt, und er hatte noch keine neue gefunden. Bei der ersten wie besinnungslosen Umarmung glaubte er am Hauch ihres Atems zu spüren, wie nah sie sich waren – und ihr verborgenes Vlies, weich wie ein Katzenfell, hätte er in der Finsternis nach dem Gehör gefunden, so schnurrte es.

Die Lust, noch irgendwo hinzugehen, verebbte in Sekunden, und als sie ihre Hüfte an ihn drückte, sorgten die von archaischen Wunschvorstellungen getriebenen anatomischen Gegebenheiten auf der Stelle dafür, dass er nichts mehr verbergen konnte. Klar, dass sie es bemerkte. Plötzlich jedenfalls flüsterte sie mit wissender Stimme: „Mir geht’s genauso.“

„Ja, wir haben uns gefunden.“ Zunehmende Verzweiflung, als ihr Handy endlos zu klingeln begann. „Verdammt, das kann nur Mira, meine syrische Freundin, sein. Sie hat mir schon angedeutet, dass es in ihrer Beziehung kracht.“ Während des einseitigen Telefonats schien Marias Stimmungsbarometer zu sinken, bis sie unwirsch antwortete: „C’est teminé, mon Dieu, tu trouveras autre chose!“ – Es ist vorbei, mein Gott, du wirst schon etwas anderes finden. War das wirklich ein Gespräch mit der lästigen frankofonen Weibse? Nach einer weiteren kleinen Weile murmelte Maria sanft: „Tu m’attends, j’arrive.“ – Warte auf mich, ich komme zu dir. Marcel war platt. War das eine Unterhaltung mit der Syrerin, oder war es ein Dialog mit ihrem Liebhaber, diesem ausgebrannten französischen Idioten, der nicht begreifen wollte, dass seine Zeit abgelaufen war?

„Tut mir leid, Mon p’ti, aber ich kann Mira jetzt nicht allein lassen, ihr Freund hat sie gerade in die Wüste geschickt, wie man so sagt. Und sie hat zu viele Tabletten im Haus. Es fällt mir selbst schwer, dich jetzt zu verlassen. Küss mich zum Abschied. Irgendwann komme ich wieder, aber es kann sehr spät werden, vielleicht in der Nacht, vielleicht in der Früh. Warte nicht auf mich! Morgen reden wir – und doch, ich verspreche dir nichts.“

Eben erst hatten sie sich aus einer langen Umarmung gelöst, jetzt diese teuflische Situation. Rasch versuchte er, sie zu beschwichtigen. „Auch ein Mensch ohne andere Zuflucht als die Straße kann glücklich sein, das weißt du so gut wie ich. Und wenn es mehr ist, als dass diese Wüstenfee ein wenig rumspinnt, können die Psychoklempner von Bonnys Ranch um sie rumtanzen.“

Maria schien dennoch in heller Aufregung: „Stell dir einfach vor, dass ich morgen früh wieder bei dir bin.“ Dabei lächelte sie ihn auf eine Art und Weise an, dass er nicht wusste, was er davon halten sollte. Sie war eine verheiratete Frau, zwar im Begriff, ihren Mann zu verlassen, aber bei aller körperlichen und gefühlsmäßigen Intimität, die zwischen ihnen bestand, hatte sie keinen Hehl daraus gemacht, dass sie zu dem reinen Gold des Lebens, zur Liebe und zum ‚fare l’amore’, nur selten nein sagte.

„Maria bleib bei mir“, bat er. „Ich verstehe nicht, wie ein Mensch überhaupt so nach Mitleid greinen kann, ich begreife die Mentalität nicht, die dahintersteckt. Auch für eine Frau ist es besser, erstmal in Ruhe nachzudenken, nach dem Knackpunkt in einer Geschichte zu suchen und herauszufinden, was sie will.“
Es kam einfach so, spontan, aus ihm heraus. „Aber in Wirklichkeit geht es um uns“ – plötzlich wurde er ernst – „und ich möchte dich sehen, ohne einen Faden am Leib, wie ein Bild von Modigliani.“

„Heute nicht mehr, Marcel“ – hier musste Maria lächeln – „aber, worauf ich hinaus will, Mira gibt keinen Pfifferling aufs Irrenhaus, auch wenn man es Ranch nennt. Und du, hab einfach etwas Geduld.“ Plötzlich blickte sie den Flur entlang in Richtung Haustür und flüsterte entschlossen: „Übrigens, ich hätte nichts dagegen, wenn du auch noch wegfährst und einiges aus deiner Vergangenheit klärst.“ Im Grunde war er damit frei, zur Geburtstagsparty seiner Assessorin Bella zu gehen, wenn er nicht einsam zu Hause rumhängen wollte. Es war wohl noch nicht entschieden, wie es weitergehen konnte, darum wollte er nur noch eins: „Maria, nimm meinen Schlüssel, du sollst zu mir können. Auch wenn ich auf dem Sofa einschlafe, während ich auf dich warte. Oder falls ich weg bin. Ja, wahrscheinlich gehe ich zur Fete einer Kollegin, wenn du sowieso nicht da bist.“

Im gleichen Augenblick, in dem Marias Schritte auf dem Kiesweg vor der Haustür verklangen, lief ein tiefer Riss durch die Welt. Der verdammte Motor ihres Wagens schien noch ein kaltes ‚Schluss jetzt!’ zu höhnen, dann brach die Welt auseinander. Zwei Hälften. Hierzubleiben – schoss es ihm durch den Kopf – hätte doch im Kern einen masochistischen Charakter gehabt, von einem faustischen Aspekt wollte er gar nicht reden. Da sollte einen nicht die Wut packen? Eine Mordswut, weil man seine eigene Zukunft in die Waagschale geworfen hat. Weil seine Hälfte ins schwarze Nichts fiel, während die andere zu vorgerückter Stunde wahrscheinlich aufstieg in lichte Sphären – er hätte es auch deutlicher sagen können – wenn sie sich von ihrem Scheiß-Franzosen noch mal rumkriegen ließ; aber das war schwer zu beurteilen für einen, der zu Hause Löcher in die Luft bohrte. Einen Augenblick war er in völliger Verwirrung, wusste nicht, was er denken sollte. Er wäre gern hinter Maria hergerast, um ihr etwas Wahres zu sagen, ganz gleich, wie dumm es klingen würde. Doch jetzt, wo er nicht sicher wusste, wohin sie wirklich fuhr, war alles anders. Er wollte nicht wieder ein Verlorener in einer Metropole sein, wie damals in Rom, als Sonia ihn zurückließ und schließlich verriet. Damals hatte er sich geschworen, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Und wenn das eben am Handy nicht der abgemeldete Franzose war, sondern doch die Freundin, warum hatte Maria die arabische Fee mit ihren sexuellen Problemen nicht auf morgen vertröstet? Die lag ja nicht im Sterben, die hätte notfalls auf ’ner Gitarre klimpern können, so wie andere Menschen auch. Freund weggelaufen, na Klasse, und das ausgerechnet in der Nacht von Bellas Fest!

Wenn er an sich dachte, dachte er an die Summe all der Widersprüche, die ihn in manchen Situationen lähmen oder auf die Höhe führen, und er lässt die Frauen Revue passieren, die ihm wichtig sind, eine mit der anderen verbunden, wie Glieder einer Kette. Jede Geschichte, der Bedeutung zukam, hatte ihrer Natur nach zwei Gesichter

Als er an diesem Winterabend, der für ihn eine Wende bedeuten sollte, endgültig allein im Haus war, beschloss er, bis zu den Wurzeln vorzudringen. Wenn er an sich dachte, dachte er an die Summe all der Widersprüche, die ihn in manchen Situationen lähmen oder auf die Höhe führen, und so ließ er die Frauen Revue passieren, die er er geliebt hatte, eine mit der anderen verbunden, wie Glieder einer Kette. Jede Geschichte, der Bedeutung zukam, hatte ihrer Natur nach zwei Gesichter. Maria gehörte – genau wie die ferne Sonia – zu denen, die ihm bloß über den Weg zu laufen brauchten, um sein Herz zu erobern. Und nicht nur insgeheim nährte er die Hoffnung, sein Leben mit ihr zu teilen.

Auch wenn er Maria liebte wollte er nicht den Verstand verlieren, darum löschte er erstmal das Licht, legte sich auf sein rotes Sofa am Fenster und schaute in den nächtlichen Himmel, mit seinen Sternen über Sternen, seiner periodischen Bewegung in unermesslichen Räumen und Zeiten, in dieses Firmament, das seinem staunenden Betrachter das Gefühl zumutet, selbst nur ein Winzling zu sein. Allein das moralische Gesetz richtet ihn wieder auf: Denn es gilt selbst grenzenlos, über den Tod einzelner Menschen und ganzer Völker hinaus. Die moralische Selbstverpflichtung, niemanden zu überfallen, zu vergewaltigen oder um sein Leben zu bringen war spiegelbildlich der weite Kosmos im engen Sapienshirn, dieses Gesetz, seine Assistentin Bella hatte ihn daran erinnert, war ebenso bewunderungswürdig wie das am Nachthimmel glitzernde Sternenheer. Plötzlich schien sein geliebtes Sofa enger, ethische Fragen machten sich auf ihm breit, als hätte einer nach ihnen gerufen. Typische Verlassenheits-krise. Er war allein – nur er und was er dachte, gleichzeitig eine Wonne und eine Qual. Und eine Menge Zeit.

Während er jetzt wieder über Maria nachsann, bemerkte er, dass seine Fingerspitzen über seinen Nabel strichen, alles musste einmal mit ihm angefangen haben. Damals hatten sie ihm die Nabelschnur durchgeklemmt, und einen Klaps auf den Podex gegeben – so wie er es wiederum bei seinem Sohn getan hatte – und schon war man auf dieser Welt, sich selbst preisgegeben, aber auch treu sich selbst, ein ständiger Fluss seit den ersten menschlichen Anverwandten vor vier Millionen Jahren, oder, überschaubarer, seit hundertsechzigtausend Generationen, also etwa doppelt so lange, wie die Lichtspirale des Andromeda-Nebels zum Menschen unterwegs war, das aber war schon der nächste galaktische Nachbar.

Das ferne Licht war hier, nur Maria war weg.
Bis dahin war nächtelanges Nachdenken und Erzählen über persönliche Dinge für ihn eher selten gewesen, eine Art Erwartung, die es einer Freundin gegenüber skizzenhaft zu erfüllen galt. Ohne dass man genau wusste warum. Bei Maria erst merkte er, welche Freude man daran haben konnte, Räume auszukundschaften, die sich einem in der Seele auftaten. Am liebsten hätte er Maria festgehalten, sie stürmisch angefleht zu bleiben, ihrem Herzschlag gelauscht, jeden Winkel, jeden versteckten Teil ihres triumphierenden Körpers erforscht und bejubelt, so wie gestern, und, wann immer möglich, in der ganzen vergangenen Woche. Doch einer Frau hinterherzulaufen kam nicht in Frage.

Wohin zum Teufel war sie eigentlich unterwegs? Zu ihrer Freundin, wie sie gesagt hatte? Oder doch zu irgendeinem Halunken, der sich vor allem für ihre Körbchengröße interessierte. Das Gefühl, sie warm umschlungen zu halten, wollte ihn nicht verlassen, doch seit sie verschwunden war, fühlte er sich verloren, verloren und verworfen wie irgendein Jean-Paul in einem tragischen film noir.

Wenn Maria weiter so tat, als wolle sie lediglich mit ihm schlafen – und sonst nichts – steckte er in der Falle. Dabei hatte er sie doch längst erobert. Und erkannt, dass sie zusammen das Beste erreichen konnten, das möglich war.

Einerseits schien sie zwar bereit, wie einst Dulcinea zu ihrem Don Quichotte, auch auf die magerste Rocinante zu steigen, bis zum Horizont und darüber hinaus zu reiten, aber offensichtlich wollte sie ihm noch nicht in das Abenteuer folgen, einen schönen Platz für eine gemeinsame Hütte zu finden und kleinen Princesas und Quichottes die Eintrittskarte fürs Leben zu schenken. Die Kämpfe des spanischen Ritters waren doch ein Klacks gegen den Versuch, bei ihr seinen Willen durchzusetzen.

Er dachte noch einmal darüber nach, was er jetzt tun könne, aber was half’s? Maria war unterwegs. Und was fängt ein Mann abends an, wenn er allein ist?

Ein bisschen Däumchendrehen und die ganze Sache vergessen? Ausgeschlossen. Es ging ums weitere Leben. Es ging darum, entweder seinen unruhigen Lebenswandel fortzuführen, oder mit Maria und den Kindern, die sie ihm schenken würde – darin wäre er gern ein Prophet – glücklich zu sein. Seine Kanzlei war nur ein Ausschnitt der Welt, Gesetze und Verbrechen waren nicht alles. Seit Rom war er erwachsen geworden, nie hätte er darauf verzichtet. Denn ohne das Desaster in der römischen Campagna, wären sie nie so intim geworden, Maria und er.

Was jetzt? Marcel starrte auf seine Hände. Es erfüllte ihn mit Seligkeit, noch immer ihre Haut zu spüren. Die Wärme, die von ihrem Schoß ausging, enthielt absolut alles, was er vom Leben wissen wollte. Auch wenn sie es selbst nicht zu sehen schien, in der Tiefe seiner Seele wusste er, dass ihre Umarmungen auch für sie mehr waren als eine gefühlvolle Stimmung, in der man sich in den Kissen herumbalgt. Wie in einem genetischen Programm spürte er in ihr etwas Verletzliches, Warmes, gleich unter der Oberfläche, etwas, das sie in ihrem Wesen verbarg und von dem sie doch hoffte, dass er es entdeckte. Vielleicht musste er nur ihren Gedanken folgen, von seinem eigenen Leben erzählen und sich weiter so eindeutig zu ihr bekennen wie in der ersten Nacht.

Nichts von dem würde heute Abend noch passieren. Was ihn eben noch hatte schwindeln lassen, Marias geöffnete Lippen, ihre feuchte Haut, die Berührung ihres dunklen Vlieses, die elementare Lust, die in ihm aufgewallte, er musste alles vergessen. Vor allem ihr herausforderndes Lächeln, das, wie es schien, Frauen in Jahrmillionen der Evolution gelernt hatten.

In den Sekunden, bevor sie ging, hatte sie sich noch einmal in seine Arme geschmiegt, tief Luft geholt, ihr Haar zurückgeworfen und ihn angesehen. In ihrem Blick lagen Gelassenheit und Hoffnung. An ihre lachenden Augen konnte er sich genau erinnern, ein Lachen, das ihm überhaupt nicht gefiel. Sie triumphierte so vielsagend und kämpferisch, als hätte ihr irgendwer gesteckt, dass es in seinem Leben zu viele Frauen gebe. Obwohl er selbst nicht fand, dass man das von ihm behaupten könne. Aber wie es der Teufel wollte, kannte sie durch einen dummen Zufall Elina – seine letzte Freundin.

Die beiden Frauen waren seit ihren ersten Semestern an der Freien Universität befreundet, jedenfalls lange bevor Maria in sein Leben getreten war. Sie waren damals um die Häuser gezogen, hatten sich irgendwann aus den Augen verloren und vor kurzem wiedergetroffen. Erst mal über dies und das geredet, bis sie anfingen, sich über die Liebe zu unterhalten. Und das war ein Thema, das sie beide gern hatten und bei dem sie sich einiges erzählen konnten.

Elina hatte über ihren Freund geklagt. Dass sie seit fast drei Monaten mit ihm zusammen sei, obwohl er ihr nie die Chance gegeben habe, eine richtige Rolle in seinem Leben zu spielen. Dass sie selbst manchmal das Gefühl habe, nicht mehr ganz bei Trost zu sein, so sehr sehne sie sich nach ihm, und die Lust, in seinen Armen zu liegen sei geradezu animalisch. Zumindest verstehe sie jetzt ihre Katze, wenn sie rollig sei.

Während Elina erzählte, war sie wie von ungefähr mit ihrer Hand zwischen ihre Schenkel gefahren und hatte sie schroff zusammengepresst. „Außer mit meiner Katze wohne ich allein, vor Monaten noch dachte ich, ich sei eine Frau, die ihre Nächte im Griff hat, jetzt will ich nur noch mit dem Kerl rummachen.“

Dann nahm sie Marias Hand. In letzter Zeit habe sie so eine unbestimmte Ahnung, dass, wenn ihr Freund spät abends komme, er mit dem Kopf nicht mehr so richtig bei ihr sei. Sie habe ihn schon fragen wollen, ob eine andere Frau dahinter stecke, aber er würde es ihr sowieso nicht erzählen, so sei er nun mal, und es würde ihr auch nicht recht sein, wenn sie’s erführe. „Wohin dann mit mir?“ Und: „Hast du eine Ahnung davon, was für eine Wüste Berlin sein kann?“

„Komm, nun übertreib mal nicht“, meinte Maria, sah Elina mit verschwörerischen Augen an und lachte. „Männer, die von scharfen Sachen mit dir träumen, findest du in der Uni an jeder Ecke, was soll’s. Mich hat noch nie ein Mann verlassen, und auch du wirst immer wen finden. Nur in billigen Romanen leiden Frauen.“ Elina hatte gelacht und für einen Moment war ihr die Idee zu einem Kuss durch den Kopf geschossen. Aber dann traute sie sich in der Sekunde dieser schwesterlichen Zärtlichkeit doch nicht und seufzte: „Mag alles sein, bei mir aber geht’s nicht gut aus.“ „Geschichten mit Typen sind, solange keine Kinder da sind, für eine Frau nie schlimm.“

Am nächsten Tag, anhand eines Details, war Maria darauf gekommen, dass sie selbst diese Andere war. Sie hatte sich geduldig alles Weitere angehört; es war eine dumme Geschichte. Aber was hätte sie für den Seelenzustand ihrer Freundin großtun können, außer zu sagen: Eine Frau solle ihre Zeit nicht mit dem für sie Falschen verplempern, so lang sei das Leben auch wieder nicht, und Männer gebe es wie Sand am Meer.

Vorhin im Flur, als Maria endgültig in der Kälte der Februarnacht verschwand, und er sie zum Abschied fast verzweifelt umarmte, offenbarte sie ihre Lust in ihren Küssen, die in einer einzigen Nacht so viele Freuden versprachen, als es Wellen am Strand, ja Sterne im Himmel gab. Auch wenn seine Geschichte mit ihr nicht so geradlinig verlief, wie er es gerne gehabt hätte, erschien die Lage nicht hoffnungslos. Aber was kapierte er eigentlich?

Was Kolleginnen oder Frauen überhaupt anging, würde er sie wahrscheinlich nie ganz verstehen. Obwohl er nun Jurastudentinnen und auch – bedingt durch die Gerichtspathologie – Medizinerinnen aus Italien, Frankreich und ganz Europa gut kannte, wann würde er sagen können, dass er die feminine Gefühlswelt so einigermaßen durchschaue? Die Lust daran verlieren, die einzelnen Facetten ihrer Emotionen zu entdecken, würde er wohl nie. Und eins hatte er schon begriffen: letztendlich waren es die Frauen, die wählten. Ob sie sich dabei selbst verstanden, war mehr als fraglich, aber wenn sie ihn wollten, war es das Größte. Sobald der Engel die Augen schloss, dann liebte er und fühlte sich geliebt, ungeheuer geliebt, frei und sorglos. Selbst nach der Demütigung durch Sonia, ohne Schlupfwinkel, ohne Vertrauen, war er wieder der glücklichste Mann der Welt geworden. Wenn er eine Frau wäre, würde er sowieso immer sich selbst aussuchen. Falls überhaupt. Eine Frau hatte ja alles, wovon er träumte.

So aber blieb nichts anderes übrig, als sich in das Theater mit dem weiblichen Teil der Menschheit zu stürzen, mit dem Feuer zu spielen und in schwankenden Betten zu lernen, welches die wahren Gesetze des Lebens sind.

Es war nicht zum Lachen, er hatte sich in Maria verliebt, als wär’ er von allen guten Geistern verlassen. Mit ihr bestand eine Übereinstimmung der Ideale, wie sie vielleicht zwischen Mann und Frau selbstverständlich sein sollte, an der es in der Realität aber leider hapert.

An jenem unvergesslichen Samstag vor einer Woche war er mit dem Telefon in der Hand zu seinem Lieblingssofa getigert, um sie anzurufen, da klingelte es bereits. Maria war dran. Sie wollte offensichtlich – genau wie er selbst – das Chaos klären, das ihnen beiden im Blut steckte.

Er wusste, was er wollte. Es gab kein: „Überleg es dir gut, lass die irrsinnigen Geschichten“. Kein: „Was soll sich daraus entwickeln?“ Und den Zeitpunkt ihres Telefonats hatte er fast auf die Sekunde vorausgesehen.

Maria verabredete sich mit ihm in einer Kneipe am Chamissoplatz, ließ ihn dort das akademische Viertel warten, aber das gehörte zum Spiel. Vertraulich und endlos hatten sie über ihre Lebensvorstellungen gesprochen, natürlich kaum ein Wort über ihren Mann, um so mehr über ihre Tochter und seinen Sohn und blöderweise auch über ihren derzeitigen Liebhaber, einen Typen aus Lyon. Immer öfter hatten sie sich wie zufällig berührt – und sich schließlich die restliche Nacht, bis in die ersten vollen Sonnenstrahlen hinein, geliebt.

Er war aufgewühlt, auch weil sie sich Dinge wünschte, wie keine vor ihr, Dinge in einem langsamen, wissenden Rhythmus, von denen man sonst vielleicht träumte.

Mit Maria konnte alles gut werden. Sie verstand es, die schönsten Wunschvorstellungen zu wecken, aber sie hatte nichts versprochen. Und ihn im Unklaren darüber gelassen, ob sie weiter mit ihrem Franzosen schlief. Falls der Geier gegen ihren Willen weiter hinter ihr her war, hätte er dem Vogel gern die Flügel gestutzt, jederzeit, egal, in welcher Ecke Berlins, zu welchem Datum oder welcher Tageszeit auch immer.

Doch wenn er Maria ansah, oder besser, wenn er spürte, wie sie ihn ansah und wie etwas sein Herz umschloss, musste er schweigen. Denn über seine ernste, von ihr aber als Provokation empfundene Frage am Morgen danach: „Sag mal, mit wem schläfst du eigentlich sonst noch?“ hatte sie fröhlich gelacht und fast den Kaffee verprustet. Eben noch hatten sie unter der Dusche gestanden und sich schweigend umarmt, jetzt ihr ungezwungenes Lachen. Nur langsam hatte er sich beruhigt. Es war eine wundervolle Nacht gewesen, er wusste, dass zwischen ihnen eine Bindung von Natur aus bestand, darum wünschte er, sie möge nie mehr zu ihrem Gammelfranzosen zurückkehren. Nie den Zauber dieser Tage brechen, die nur ihm gehörten. Aber er beschloss auch, nichts mehr von seinem Ich preiszugeben – oder sich bei seinen eigenen Geschichten zu beschränken.

Trotzdem hatte er sich die Möglichkeiten mit ihr weiter in den schönsten Farben ausgemalt. Sie wollte sich von ihrem Mann trennen: „Nicht um mit dir zusammenzuziehen, Marcel, damit das von vornherein klar ist. Von der Ehe habe ich die Nase voll. Und doch musste ich wohl erst verheiratet sein und an der Uni Typen aus aller Herren Länder kennenlernen, um mich dann ausgerechnet bei der Arbeit auf einen so folgenreichen Mann einzulassen wie dich.“ Marias weibliche Wahrheit war auf ihren Willen getroffen, sie hatte geseufzt.

Alles war in eine Sekunde zusammengedrängt, die entweder genutzt wurde oder nicht genutzt wurde, die Zukunft war schon immer ein großes, hingestrecktes Weib mit samtenem Schoß. Er hatte nur seine Worte: „Und für mich gibt es von dem Augenblick an keine Frau mehr, mit der ich sonst schlafen wollte, in dem du dich festlegst.“

„Du glaubst wohl“, hatte sie erwidert, „dass ich mich wie in Trance in deine Arme fallen lasse, um von dort glücklich auf den wuseligen Rest der Welt zu schauen. Es wäre zu einfach.“ Dann öffntete sie ihm die Augen: „Du brauchst gar nicht weiterzusprechen, ich werde mein Schicksal selbst in die Hand nehmen und meine erste Unabhängigkeit seit Jahren nicht einfach aufgeben.“

Von da an gefiel ihm die ganze Richtung der Diskussion nicht mehr. Eigentlich wollte er sich schon lange ein Nest bauen, und, neben seinem Sohn aus verkorkster erster Ehe, weitere Kinder haben – nichts war zerstört worden außer ein paar Illusionen, er selbst war intakt, die Welt war intakt und die Zeit war reif.

Maria war die Richtige. Und wenn es das Einzige war, was er in seinem Leben wusste, diese Frau würde er immer lieben. Er bewunderte sie, beim fare l’amore verstanden sie sich blind. Und wenn sie sich bei den Händen oder sonstwo hielten, und vom Hundertsten zum Tausendsten kamen, fühlte er es: Ihre Seelen standen miteinander in Verbindung wie kommunizierende Röhren. Oder lagen die kommunizierenden Röhren in Wirklichkeit zwischen ihren in den Tiefen der Scham verborgenen weiblichen Schwellkörpern und seinen eigenen gar nicht versteckt reagierenden Corpora cavernosa des Penis? Geheimnisvoll verschworene Corpora Delicti beide, Hormon-Schloss und Schlüssel in weiblicher und männlicher Anatomie. Ein evolutionäres Sexual-Theater zwischen maskuliner Vorstellungskraft und femininer Spielerei?

Ein Gedanke dabei hatte ihn nie losgelassen: dass ihr Mann nicht besonders helle sein könne, wenn er mit einer Frau wie Maria herumstritt und sie verlor. Er selbst war bei ihr ja ein fröhlicher Erzähler geworden, mit einem fundamentalen Willen, sich sein Glück zu erobern. Und als sie an jenem Samstagabend aus der Kneipe kamen, hatte sie ihn angelächelt, und sie hatten sich geküsst, dass es ihm den Atem raubte.

Maria hatte zum Glück die richtige Mischung aus eigenem Willen und hingebungsvoller Lust. Sie war unabhängig, sie war klug. Maria konnte der helle Stern sein, der nicht nur über seiner unmittelbaren Zukunft stand, sondern für alle Zeit. Darum auch sollte sie ihn nicht wie einen zugelaufenen Köter behandeln, den man streichelt, bevor man ihn zurück auf die Straße jagt.